Ein Urteil des OLG Dresden macht fassungslos. Es zeigt, dass sich Richter mehr Versicherungsexpertise von außen holen sollten. Das wird nun hoffentlich bald geschehen.
Dieses Urteil des Oberlandesgerichts in Dresden aus dem vergangenen Jahr überraschte wohl alle, die sich auch nur ansatzweise mit Versicherungen auskennen. Da hatte ein Versicherungsvermittler einer Familie den Abschluss einer Risiko-Lebensversicherung regelrecht verwehrt, obwohl man sich zu dem Zweck getroffen hatte, die finanzielle Absicherung der Ehefrau und ihrer beiden kleinen Kinder – auch mit Blick auch mit Blick auf die Tilgungsverpflichtung einer Autofinanzierung – zu besprechen. Der Familienvater war Alleinverdiener und starb unerwartet kurz nach dem Beratungsgespräch.
Die Ehefrau verklagte den Vermittler, weil dieser von der Risiko-Lebensversicherung sinngemäß mit der Begründung abgeraten hatte, eine solche wäre nur „reine Geschäftemacherei“. Der Vermittler hat das Beratungsgespräch nicht dokumentiert, wiederholte aber vor Gericht seine Begründung. Das Erstaunliche nun: Das OLG sprach den Vermittler von jeder Schuld frei!
Makler kam seiner Dokumentationspflicht nicht nach
Marktteilnehmer und Juristen konnten das Urteil kaum fassen. Sogar der renommierte Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Hans-Peter Schwintowski fühlte sich zu einem Kommentar bemüßigt: Abgesehen davon, dass das OLG Dresden wesentliche juristische Grundsätze nicht beachtet habe, sei die Argumentation des Gerichts, die Verletzung der Dokumentation führe nicht zu einem Schadensersatzanspruch, völlig unzureichend. Eigentlich hätte der Makler in der Verhandlung nachweisen müssen, dass der von der Ehefrau selbst vorgetragene Wunsch auf Abschluss einer Risiko-LV vom Ehemann abgeblockt worden sei. Konnte er aber nicht. Dennoch urteilte das OLG: Käme es regelmäßig zu einer Beweislastumkehr, so könnte einem Makler, der keine Dokumentation vorgenommen hat, theoretisch jedweder Beratungsinhalt „untergeschoben“ werden, was zu einer uferlosen Haftung führen würde.
Im Umkehrschluss hieße das: Wer seiner Dokumentationspflicht nicht nachkommt, verschafft sich selbst vorab einen Freibrief. Damit nicht genug: Weil der Makler den Abschluss einer Risiko-LV für einen gesunden Ehemann mit 39 Jahren also für völlig falsch hielt, obwohl man sich eigens wegen der Risiko-Absicherung der Familie zusammengesetzt hat, kam es nicht zum Abschluss. Als ob der Makler einschätzen könne, wann der Tod eines Menschen eintritt.
Die nun alleinerziehende Mutter zog vor den Bundesgerichtshof. Es ist offensichtlich, dass dieser das OLG-Urteil ebenfalls nicht nachvollziehen konnte, denn er verwies den Fall zurück nach Dresden. Nun rüsten sich die Anwälte der Klägerin mit neuen Argumenten. Dabei wird zur Sprache kommen, welchen Stellenwert eine Risiko-LV im Absicherungsgefüge einer Familie eigentlich hat.
DIN-Norm 77230 als Leitfaden für das Gericht
Hilfreich wird dabei ein Blick in die DIN-Norm 77230 sein, so die Empfehlung von Professor Schwintowski von der Humboldt Universität zu Berlin, immerhin früherer Versicherungsbeirat bei der BaFin. Diese Analyse-Norm für Privathaushalte folge der Logik, dass allgegenwärtige Risiken vor zukünftigen Risiken, existenzbedrohliche vor nicht existenzbedrohlichen Risiken, unvermeidbare vor vermeidbaren Risiken und Risiken mit gesetzlich vorgeschriebener Absicherung vor solchen mit nicht gesetzlich vorgeschriebener Absicherung gedeckt werden sollten.
Beim Todesfall handelt es sich um ein existenzbedrohliches, unvermeidbares Risiko. Der Todesfall ist eindeutig ein allgegenwärtiges und kein zukünftiges Risiko. Der Todesfallschutz hat somit zwingend vor jeder Form der Altersvorsorge zu rangieren. Deshalb steht in der Rangfolge der 42 Finanzthemen der DIN-Norm 77230 der Grundschutz für Todesfall unmittelbar hinter dem Grundschutz bei Krankheit und Pflege, dem allgemeinen Haftungsrisiko und dem Arbeitskraftverlust.
Hoffnung auf Korrektur des unbegreiflichen Urteils
Der Makler hat sich also komplett gegensätzlich zu der Norm-Logik verhalten, wie sie Finanzwissenschaftler, Verbraucherschützer, Juristen und hochkompetente Finanzexperten der Branche im Konsens erarbeitet hatten. Aus der Perspektive der DIN-Norm 77230 sind die Einschätzungen des Maklers in diesem Fall absolut unbegreiflich und unverständlich. Noch weniger verständlich und begreiflich ist es, dass das OLG Dresden einem solchen Makler mit einem solchen Weltbild gefolgt ist, so die einhellige Meinung Schwintowskis und vieler, die an der Norm mitgewirkt hatten. Es bleibt zu hoffen, dass sich auch das OLG Dresden diesem geballten Sachverstand unterwirft und die Größe hat, sein erstes Urteil zu revidieren.
Dr. Klaus Möller
DEFINO Institut für Finanznorm AG
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Dr. Klaus Möller ist Vorstand der DEFINO Institut für Finanznorm AG und Obmann Normenausschuss Finanzen (NAFin) im DIN Deutsches Institut für Normung e. V.
